Beschreibung
Ein moderner »Herr der Fliegen«. »Ich habe Angst davor mitzugehen, aber ich habe noch mehr Schiss, nicht mitzugehen. Ich bin jetzt in Carls Gang, und sobald man da drin ist, kann man sich nicht mehr aussuchen, wobei man mitmachen will. Wenn ich ihn verrate, wird er sich an mir rächen. Ich muss gehen.« In schnoddrigem, coolem Ton erzählt Ben von seiner verhängnisvollen Freundschaft mit Carl. Von der widerwilligen Faszination und der unheimlichen Macht, die der gewalttätige Junge auf ihn ausübte - und wie es dazu kam, dass Ben beinahe in einen Zug gestiegen wäre, um in einer fremden Stadt ein schreckliches Verbrechen zu begehen, nur weil Carl es so wollte. Ein nachhaltig beeindruckender Roman über Macht und Abhängigkeit unter Jugendlichen, überzeugend und beklemmend authentisch.
Leseprobe
Bei mir zu Hause Ich weiß, was Sie wollen. Sie wollen wissen, wer an der ganzen Sache schuld ist. Sie wollen herausfinden, ob auch ich irgendwie daran schuld bin. Ich habe eine ganz neue Theorie für Sie. Ollys Tante ist schuld. An allem. Ihretwegen hat das alles angefangen. Ich habe sie nie getroffen, und ich weiß auch nicht, wo sie wohnt oder wie sie aussieht, aber das heißt nicht, dass man sie nicht dafür verantwortlich machen kann. Wenn Sie's mal logisch angehen, sollten Sie sich Ollys Tante vorknöpfen. An dem Tag, als alles angefangen hat, ist sie krank geworden. Vielleicht hat sie sich da auch scheiden lassen. Oder hat geheiratet. So was in der Art jedenfalls, und Olly musste weg und hat mich allein gelassen. Wenn Ollys Tante an diesem Sonntag nicht getan hätte, was auch immer sie getan hat, wäre Olly nicht gegangen, und wenn Olly nicht gegangen wäre, hätte ich Carl nie kennen gelernt, und wenn ich Carl nie kennen gelernt hätte, wäre jetzt noch alles in Ordnung. Ich wüsste nicht, wer Sie sind, Sie wüssten nicht, wer ich bin, und uns beiden würden Ihre total langweiligen Besuche erspart bleiben. So wie er immer angezogen ist, hätte ich mir gleich denken können, dass man ihn eines Tages einsperren würde. Er trägt keine Jeans, sondern graue Hosen mit Bügelfalten, und er hat auch kein T-Shirt an, sondern ein richtig erwachsenes Hemd, das bis ganz oben zugeknöpft ist. Das sieht total verboten aus. Wenn ich das tragen müsste, würde ich den Kragen wieder aufknöpfen, aber Olly ist bei so was nicht gerade der Hellste. Olly sieht oft ein bisschen komisch aus. Er hat ein echtes Talent dafür, Sachen reinzustecken, die raushängen müssen, und Dinge zuzumachen, die offen bleiben sollen. Außerdem zieht er sich immer zwei Monate kälter an als nötig. Jedes Mal, wenn er vorbeischaut, vergisst er mindestens einen Pulli bei mir. Wenn ich dann zu ihm rübergehe, muss ich meistens eine ganze Ladung Klamotten abliefern. Aber das macht mir nichts aus. Das gehört bei Olly einfach dazu. In dem Teil seines Hirns, mit dem normale Menschen über Kleidung nachdenken, speichert er seltsame Ideen und Geschichten, von denen sonst keiner weiß. »Was hast du denn an?«, frage ich, als er reinkommt. »Schau dir das mal an«, erwidert er. Langsam und umständlich, als würde er einen Zaubertrick vorführen, zeigt er mit dem Finger auf zwei Stofflaschen, die an seinen Ärmeln befestigt sind. Er fuchtelt mit den Händen in der Luft herum, als würde er vor einem Publikum von fünfzig Leuten auftreten, knöpft sie eine nach der anderen vorsichtig auf, wackelt mit den Schultern und lässt die Laschen auf und ab flattern. »Du kommst nie drauf«, erklärt er, »du kommst nie und nimmer drauf, was das für Teile sind.« »Doch, klar komm ich drauf.« »Na, dann spuck's aus«, fordert er mich auf. »Das sind Schulterklappen«, sage ich. »Falsch!«, ruft er und schlägt das Wort wie eine Glocke an. »Nicht falsch. Ich seh's doch. Das sind Schulterklappen.« »Das sind nicht einfach nur Schulterklappen«, erklärt er und kneift die Augen zusammen, um geheimnisvoll auszusehen. Auf seinen geheimnisvollen Blick falle ich nie rein, vor allem dann nicht, wenn er ein Hemd trägt, das bis ganz oben zugeknöpft ist, und ihm an den Schultern dämliche Stoffstreifen abstehen. Deshalb sage ich erst mal nichts und verschränke nur die Arme, um ihm zu zeigen, dass ich kein bisschen beeindruckt bin. »Das sind Mützenklappen«, sagt er. »Grützeklappen?« »Mützenklappen. Klappen für Mützen. Für Soldatenmützen. In der Marine. Wenn sie grün und nicht gelb wären, hätte ich eine richtige Uniform.« »So ein Quatsch«, gebe ich zurück. »In der Marine gibt's keine Soldaten. Nur Matrosen. Außerdem sind Marine-Uni-formen nicht grün, sondern marineblau. Deswegen heißt Marineblau ja auch Marineblau.« »Stimmt doch gar nicht. Wenn Marineblau wegen der Marine Marineblau wäre, würde Grün ja auch nicht Grün heißen, sondern Militär.« Sich mit Olly zu unterhalten, ist so, als würde man am tiefen Leseprobe